Erst singen – dann sprechen Fallbeispiel eines als untypisch umschriebenen Sprachentwicklungsverlaufes

Dieser Fachartikel wurde in "sprechen", Zeitschrift für Sprechwissenschaft-Sprechpädagogik-Sprechtherapie-Sprechkunst
2016, (33) 62, S. 9-18 veröffentlicht.

„Normal ist … nicht die zentrale Tendenz, sondern normal sind Unterschiedlichkeiten und Vielfalt“ (Szagun 2007, 55).

Einleitung:

Die Entwicklung der Systeme und Subsysteme, die an der Sprechmotorik beteiligt sind, und ihre Interpretation ist von vielen Faktoren abhängig und sicher nicht in der Weise genetisch und normativ festgelegt, wie es lange angenommen wurde (vgl. Amorosa 2001). Sie kann aber nur dann gelingen, „wenn die notwendigen, differenzierten Bewegungen des Sprechapparates möglich sind“ (Herzka 1984, 53). Das Fallbeispiel eines mittlerweile 1;8-jährigen Mädchens zeigt, wie die sich im ersten Lebensjahr anatomisch und funktionell verändernden Entwicklungsverläufe von Sprechatmung, Stimmgebung und Artikulation durchaus auch zuerst für das Singen und zeitversetzt später für das Sprechen genutzt werden können. Ziel ist es im Beitrag, die Relevanz des Beobachtungsdatensatzes für sprechwissenschaftliche Arbeitsbereiche und deren Bezugsfelder aufzuzeigen; denn besonders Studierende und Berufsanfänger kennen vornehmlich diejenigen Werke, die den normgerechten oder typischen Spracherwerbsverlauf beschreiben (vgl. z. B. Szagun 2007, Wicki 2015) sowie verzögerten oder gestörten Spracherwerb (vgl. z. B. Glück 2009, Grohnfeldt 2009, Suchodolez 2001 und viele andere). Aber ist ihnen auch die enorm differenzierte Variationsbreite normaler Verläufe bewusst? Ohne konkrete Fallbeispiele, die von der entwicklungspsychologisch beschriebenen Normalentwicklung abweichend dennoch zum ersten Wort oder Protowort gegen Ende des ersten/ Mitte des zweiten Lebensjahres führen, bleiben plakative Hinweise auf starke individuelle Unterschiede beim Spracherwerb kaum nachhaltig im Gedächtnis der Rezipierenden haften. Nicht alles, was als nicht normativ umschrieben wird, muss pathologisch sein.

1 Zur Entfaltung der Sprechmotorik im ersten Lebensjahr

Während des ersten Lebensjahres kommt es zu einer strukturellen Ausdifferenzierung der Oralmotorik als Voraussetzung für das Entstehen von Sprachlauten wie zur Larynx-Senkung mit größerer Bewegungsfreiheit der Zunge; zu Veränderungen der Muskelverhältnisse, welche die Sprechatmung und Stimmgebung dergestalt befördern, dass eine Lautanbahnung/ Lautmusterbildung erfolgen kann, welche die an den Sprechakt gekoppelte Artikulation voranbringt (vgl. Amorosa 2001, V. Clausnitzer 1997): Denn „das Sprechen … wird von über 200 Muskeln im orofazialen, pharyngealen, laryngealen und thorakalen Bereich mit … Millisekundentempo der ablaufenden Bewegung realisiert“ (V. Clausnitzer 1997, 27). Aber nicht nur diese an den Sprechakt gekoppelte Artikulation differenziert sich durch die Feinabstimmung der Oralmotorik aus; gleiches gilt auch für das Singen, wie beispielsweise bezüglich der frühen Tonhöhenregulation – bedingt durch frühe, präzise Laryxmuskel-Präzisionsarbeit – aufzuzeigen sein wird.

Ohne an dieser Stelle spracherwerbsrelevante Einzelprozesse darzustellen (schematische Auflistung siehe: Herzka 1979, 100 ff; 1984, 56-57), soll entlang der die Sprechmotorik umfassenden Subsysteme Sprechatmung – Stimmgebung – Lautbildung ihr Zusammenwirken im Dienste der Sprach- und Singentwicklung als Lernprozess dargestellt werden (vgl. Amorosa 2001; Katzenbacher 2015). Denn die sich anatomisch und funktionell verändernde Sprechatmung und Phonation muss für Sprechen wie für Singen koordiniert und kontrolliert werden können, was im Laufe des ersten Lebensjahres vom vorsprachlichen Kind bis zu seinem ersten Wort respektive seiner ersten rhythmischen Tonfolgenäußerung im sprachlich-musikalischen Stimmgebrauch beständig geübt wird.

Im vorliegenden Fallbeispiel werden vom Säuglings- über das Kleinkindalter bis in das zweite Lebensjahr hinein Atmung, Stimmgebung und Artikulation sehr wohl für die Bildung von Vokalen, dann für vokal-konsonantische Mischungen sowie verdoppelte Silben genutzt; bis zum 15. Monat aber keine Protowörter gebildet. Stattdessen nutzt das Kind seine Lautbildungen, um ab dem zehnten Lebensmonat freudvoll rhythmisch und melodisch korrekt lange Tonfolgen vorgesungener Kinderlieder zu imitieren, die mit steigendem Alter zunehmend länger und in einem größeren Frequenzbereich gelingen. Solches wird auch von Esther Beyer in ihrem Fallbeispiel einer musikalischen und sprachlichen Entwicklung während der frühen Kindheit vorgestellt (Beyer 1994, Dissertationsschrift).

2 Sprechatmung und Stimmgebung als konzertierte Aktion

Im Verlauf des ersten Lebensjahres bildet sich die Sprechatmung heraus mit einer um das Dreifache verlängerten Ausatemphase und einem ausreichend hohen und kontinuierlichen Ausatemdruck an den Stimmlippen, wodurch ein hörbarer Ton erzeugt werden kann (vgl. Amorosa 2001, 103). Bei dieser nach und nach erworbenen Kontrolle über den subglottalen Druck gelingen sprachtragende Atmung und damit umfangreichere Lautäußerungen während der Exspirationsphase immer besser, ebenso genaue Lautstärken-Kontrolle. Denn je präziser die Bewegungsüberwachung des Öffnens und Schließens der Stimmlippen während des Einatmens funktioniert, desto besser kann die unterschiedlich weite Öffnung der Stimmlippen für stimmhafte versus stimmlose Laute beim Sprechen gelingen samt Tonhöhenregulation (= Frequenz der Stimmlippenschwingungen in Abhängigkeit von der Muskelarbeit der Larynx; vgl. Amorosa 2001, 105; Katzenbacher 2016, 47-48). „Erst zwischen dem sechsten und neunten Monat ist die Kontrolle so weit ausgebildet, dass das Baby während einer Ausatmungsphase die Stimmlippen mehrmals öffnen und schließen kann … Mit etwa acht bis neun Monaten … ist eine gewisse Kontrolle über die Stimmlippenspannung und die Koordination der Öffnung mit Artikulationsbewegungen erreicht“ (Amorosa 2001, 106); die verschiedenen Artikulationsorte sind ausgebildet und es gelingen die Bewegungsmuster für Sprachproduktion wie Runden der Lippen für /o/ oder /sch/, Heben der Zungenspitze für /t/ oder /s/, Öffnen der Verbindung von Nasen- und Mundraum für Nasallaute als Voraussetzung für die Produktion von Wörtern (vgl. ebd. 109).

Was Hedwig Amorosa hier bezüglich Lautäußerungen und Tonhöhenregulation für das Sprechen feststellt, ist im vorliegenden Fallbeispiel für das Singen immer längerer Melodiesequenzen mit verdoppelten Silben wie den Vokalreihungen /o/../o/../oo/ samt Glissando und konsonant-vokalischen Kombinationen wie /da/../da/../da da/../da da da da da/ zu hören. Bei diesem Kind ist im Alter von acht bis neun Monaten bereits eine frühzeitige Tonhöhenregulation in einem Tonumfang/ in Intervallen wie der Terz vorhanden – vermutlich bedingt durch eine frühe, präzise ausgebildete Larynxmuskelarbeit, womit die Voraussetzung für das Singen von Melodien gegeben ist, die über die C-Durtonleiter hinaus gehen und lange Tonfolgen beinhalten. Mit zehn Monaten singt das Kind unseres Datensatzes die gesamte Melodie von „Freude, schöner Götterfunken“ rhythmisch und tonhöhenkonform korrekt mittels Silbenwiederholungen (siehe Kapitel 5).

3 Von „Tönen der Sprache“ und „Tönen der Musik“

Es heißt zwar „Sprache ist auch Musik für das Kind: lautmalerische Effekte, Melodie, Rhythmus, Klangfarbe, Lautstärke sind wichtige Eigenschaften des gesprochenen Wortes“ (Herzka 1984, 53). Und dennoch können Töne der Sprache nicht gleichgesetzt werden mit Tönen der Musik (vgl. Beyer 1994, 29). In den westlichen Sprachen dient eine bestimmte Tonhöhe nicht als Bedeutungsträger. Bedeutung entsteht vielmehr aus der festen Kombination verschiedener Phoneme in einem Wort. Hier haben Intonationen vorwiegend emotionale Ausdrucksfunktion und bereits die Melodieführung des ersten Schreiens folgt dem Betonungsmuster der Umgebungssprache aufgrund von Imitationslernen (vgl. Friederici 2013: unterschiedliche Schreimelodien französischer versus deutscher Säuglinge).

Ausführliche Darlegungen zur Entwicklung von Tonhöhen, Rhythmus und Melodie finden sich bei Beyer (1994, 35ff). Für unseren Kontext erscheint besonders relevant, dass „bereits die früheste Form des Singens … alle wichtigen Eigenschaften von Musik: Tonhöhe, Zeitstruktur, Lautstärke, Vokale und Konsonanten“ enthält (Stadler Elmer 2008, 146) und zudem sprachliche und musikalische Elemente vereint (vgl. ebd. 151). Nach Beyer beginnt innerhalb der breiten Zeitspanne vom sechsten bis 18. Monat das erste Singen, die „erste Phase der melodisch-lautlichen Äußerung“ (Beyer 1994, 58). Hier bezieht Beyer sich auf ihre Literaturrecherche (siehe Dissertationsschrift), laut der in jenem Zeitraum mehrere Gesangarten zu unterscheiden sind wie Lallmelodien, Potpourris, Horizontalmelodien (= Schrittmelodik), Erzählgesang und vor allem Singmonologe als Spiel mit den bereits beherrschten Vokalen. In unserem Fallbeispiel kommt es vorwiegend zu ausgedehnten Potpourris mit Silbenwiederholungen in den Kinderliedern resp „Spielliedern“ (im Unterschied zu Schlafliedern; vgl. Hannon & Schellenberg 2008, 134) und entsprechender Tonhöhenvariation bei rhythmischer und melodischer Korrektheit. Ältere Forschungen vertreten die allgemein bekannte Erwerbsreihenfolge, nach der zuerst der Rhythmus für den Prozess der Klangdifferenzierung und die Lautstruktur fungiere und in Form rhythmischer Silbenketten-Gesänge auftrete und später erst die Melodie vom Kind korrekt bewerkstelligt werde (vgl. Gesell & Ilg 1943, Hellbrügge et al. 1985). Bentley stellt 1968 die Hypothese auf, Melodie und Text würden zusammen assimiliert (Gesell & Illg, Bentley zitiert nach Beyer 1994). Beides ist in unserem Fallbeispiel nicht zu beobachten. Hier treten Rhythmus und Melodie zeitgleich auf mit einem Stimmumfang zwischen c` und a`/ bis c`` als Aufeinanderfolge von Tönen innerhalb der C-Durtonleiter (z. B. in „Alle meine Entchen“, „Jetzt steigt Hampelmann“, „Bruder Jakob“) und einer enormen Treffsicherheit der zuvor gehörten Tonhöhenmuster. Es werden alle Noten der Lieder in Silbenketten und Melodie gesungen (vgl. dazu Beyer 1994, 145: alle Noten in Text und Melodie des Liedes „Frère Jacques“ beim zweijährigen Beobachtungskind).

Abbildung 1
Textversion „Jetzt steigt Hampelmann ...“ mit Aufeinanderfolge von Tönen innerhalb der C-Durtonleiter
(Gemeingut; Jackel 2008, 99-100)

Abbildung 2
Silbenketten-Version „Jetzt steigt Hampelmann ...“

Und auch dazu liegen die Altersangaben individueller Singentwicklungsverläufe weit auseinander, so dass Stadler Elmer „es für unsinnig [hält], Tonhöhenmuster in Form von Intervallen unseres Tonsystems in Abhängigkeit vom Lebensalter als Kriterium für die Beschreibung [des Normalverlaufes] musikalischer Entwicklung zu verwenden; wie beispielsweise das Intervall Terz mit 3 Jahren oder die Quinte mit vier Jahren, etc.

Es scheint naheliegend, dass diese vom Kind angestimmten Potpourris unseres Beobachtungsfalls auf Imitationslernen zurückzuführen sind, denn die Großmutter hat jene Kinderlieder täglich vorgesungen. Ein Kind entfaltet sich auch in seiner Singentwicklung je nach den Stimuli, die die Bezugspersonen anbieten (siehe Kapitel 5).

Dass es im vorliegenden Beobachtungsdatensatz zu besonders exakt nachgesungener Melodie, präziser Rhythmik und getroffenem Tempo im Rahmen des wechselseitigen Nachahmungsspiels und der zeitlich dazu „verschobenen Nachahmung“ (Stadler Elmer 2008, 154) aus den vorherigen dialogischen Singspielen kommt, scheint der gut entwickelten Atemfertigkeit und Zeitdiskriminationsfähigkeit dieses Kindes geschuldet zu sein. Solches wird auch von Papousek & Papousek „als wechselseitige Imitation von Tonhöhen und Intonation nicht selten über zwei bis drei Oktaven hinweg“ beobachtet (Papousek & Papousek 1989, 472; zitiert nach V. Clausnitzer 1997, 126).

4 Zeitdiskriminationsfähigkeit im Zusammenhang mit der Organisation von Sprechen und Singen

Gesprochene Sprache und Musik bestehen aus sich in der Zeit schnell ändernden akustischen Informationen. Sowohl das En- wie das Dekodieren setzt eine gut entwickelte Zeitwahrnehmung und -kontrolle voraus (Fraser 1993; übernommen von Berwanger 2001, 141). Damit ist die Zeit jene Größe, die das Sprechen wie das Musizieren taktet.

Nach sprachwissenschaftlicher Begriffsfassung versteht man unter Pattern „charakteristische Sprachmuster, nach denen sprachliche Einheiten nachgeahmt und weitergebildet werden“ (Duden 2007, 773), weshalb Hirsh bereits 1959 die Zeit als die „pattern dimension“ für Sprache bezeichnet hat (Hirsh 1959; zitiert nach Berwanger 2001, 118). Schon Säuglinge erkennen solche Pattern und reagieren mit heftigen Ganzkörperbewegungen, wenn deren Struktur in unkorrekter Form dargeboten wird (vgl. Friederici 2013, 144). „In einer ihrer Versuchsanordnungen können bereits mit vier Monaten syntaktische Relationen zwischen Elementen in einem Satz erfasst werden [= Klangbild des Satzes „He is singing“] durch Heraushören einer sprachlichen Gesetzmäßigkeit (auf „is“ folgt „-ing“), die ihnen zuvor wiederholt dargeboten wurde“ (Jackel 2016, 20). Hannon und Schellenberg bestätigen diese Präverenz für phonotaktische Regeln der Muttersprache – allerdings bezüglich neunmonatiger Säuglinge (Hannon & Schellenberg 2008, 140). Diese Bevorzugung bestimmter Sprachmuster korrespondiert mit der Beobachtung Scheichs, dass Säuglingsgehirne mit immenser neuronaler Reaktion antworten, wenn die Prinzipien der Harmonie in einem Musikstück verletzt sind (vgl. Scheich 2013, 72). Im menschlichen Gehirn sind jene Neuronen funktional miteinander vernetzt, die Oktaven (als bestimmtes Verhältnis von Frequenzen zueinander) bevorzugen und tonotrop (mit dem Grundton c`) strukturiert sind. Also werden konsonante Tonhöhenintervalle innerhalb von Oktaven als Wohlklang wahrgenommen. Und Melodien auf Basis der C-Durtonleiter (hier: Kinderlieder) entsprechen dem natürlichen Klangempfinden von Kindern laut der Musikpsychologen Drösser, Jäncke, Kölsch, Scheich und Schellenberg (vgl. Jackel 2016, 20).

„Musik ist eine Zeitkunst, … so werden die Notenwerte nach Zeiten oder Schlägen gemessen. Diese Werte … richten sich nach dem Tempo, dem Zeitmaß“ (Schneider 2005, 12) und „der Rhythmus an sich bildet sich erst durch wiederholte Muster im Zeitablauf heraus. Er ist das Zeitmaß, in dem sich seine Elemente gruppierend abwechseln und repetieren“ (Jackel 2016, 19).

Tonhöhen, Tondauern und Metren/ Takte sind Aspekte dieser Zeitstruktur (vgl. Drösser 2009). Der Takt ist dabei derjenige, nach dem synchronisiert geklatscht, getanzt, marschiert und gesungen wird. Nach Hannon und Schellenberg sind bereits bei Säuglingen Fähigkeiten der zeitlichen Wahrnehmung von Musik zu beobachten; besonders bezüglich Rhythmus und Takt. Und schon „sieben Monate alte Säuglinge bevorzugen den Rhythmus, zu dem sie bewegt worden sind“ (Hannon & Schellenberg 2008, 138); zum Beispiel den Rhythmus von „Hoppe, hoppe Reiter“, zu dem sie samt Glissando sanft rückwärts abgekippt wurden. Aus dem Erkennen der melodischen Kontur mit nur grober Melodie-Erkennung in den ersten Lebensmonaten wird im Verlauf der Musikentwicklung ein genaueres Erkennen der exakten Tonhöhenabstände, das heißt eine vom Kind geleistete genaue Analyse der Intervalle.

Für unseren Kontext ist wesentlich, dass diese getaktete Zeit vom Kind über erlebte Veränderungen erschlossen werden muss, um wahrgenommen und dann auch selbst nachahmend produziert werden zu können. Im Fallbeispiel ist ein früh ausgeprägtes Wissen um sich wiederholende Abläufe, um die Aufeinanderfolge von Handlungsmustern im täglichen Umgang und um die jeweilige Dauer der Aktionen vorhanden (wie Brei zubereiten oder Bettchen aufdecken als Wartezeiten, bis die Bezugsperson sich wieder dem Kind zuwendet). Denn es wartet bereits ab dem sechsten Monat geduldig beobachtend, bis die einzelnen Abläufe erfolgt sind. Hier kann man von einer gelungenen zeitlichen Diskriminationsfähigkeit sprechen, die sich auch positiv auf die Rhythmuserfassung und -produktion beim Singen auswirkt. So bewegt das Kind mit 12 Monaten zwei Plüschbären (tanzend an den Tatzen gefasst) rhythmisch korrekt zur silbenwiederholend gesungenen Melodie aus /ho/.. /ho/ und /ga/ .. /ga/ des Kinderliedes „Vögelein, Vögelein tanz mit mir“ von Rolf Zuchowsky.

5 Wiederholtes Darbieten … und neuartiger Einsatz der Oralmotorik

Es ist bekannt, dass „die phonischen Ausdruckserscheinungen der Bezugsperson [= ihre stimmlichen Kommunikationsmittel] bereits vom jungen Säugling aufgenommen, registriert und verarbeitet werden können“ (V. Clausnitzer 1997, 73). Auch beim späteren Darbieten von Kinderliedern wie beispielsweise „Alle meine Entchen“, „Hallo Mama, hallo Papa, die Zeit im Ei ...“, „Bruder Jakob“, „Ein Männlein steht im Walde“ in ständiger Wiederholung werden Nervenzellen angeregt, neue synaptische Kontakte zu knüpfen, was wiederum diese Erregungsausbreitung erleichtert und weitere Verknüpfungen provoziert. Didaktisch geschicktes Verhalten der Bezugspersonen umfasst eine häufige Wiederholung solcher Singangebote (vgl. Beyer 1994) oder auch Sprachangebote (vgl. Suchodolez 2001) zu dem Zeitpunkt, da das Kind wach und aufnahmebereit ist. So lernt es, gehörte Lautäußerungen zu imitieren (vgl. Amorosa 2001, 114). Ob es sich beim Singen vor dem Sprechen um eine genetische Prädestination für das Singen oder alleinig um eine prägende musikfreundliche Umfeldkomponente handelt, ist in unserem Beobachtungsfall nicht eindeutig eruierbar: Die musizierenden Eltern und Geschwister zeigen ein hohes Potenzial in diesem Bereich und prägen mit ihrer gehäuft ausgeführten Tätigkeit des Musizierens zugleich die Umfeldbedingungen, in denen unser Beobachtungskind aufwächst. Nach Mönks jedenfalls sucht „das genetische Potential aktiv nach Umgebungen …, die zu diesem Potential (Genotyp) passen“ (Mönks 2000, 25). Und Maria Montessori hat den Begriff der „vorbereiteten Umgebung“ eingeführt, unter der sie ein Umfeld versteht, das den Bedarfslagen und dem Entwicklungsstand eines Kindes angemessen ist und einen pädagogischen Ansatz, der darauf abzielt, „die Sinne des Kindes in besonderer Weise für Lernprozesse heranzuziehen“ (Hellbrügge & Montessori 1978, 10).

Übrigens: Nach 18 Monaten – von einem Tag auf den anderen – entscheidet sich unser Beobachtungskind, seine bislang beübten Lautmuster für das Sprechen einzusetzen. Es verwendet zunächst zahlreiche Nomen (z. B. Hose, [V]ogel, Wagen), zeitgleich Nomenkombinationen (z. B. Papa Arm, ganz allein) und seine weitere Sprachentwicklung verläuft normgemäß. Auch in der Musikentwicklung werden jetzt mehrere Worte der Liedtexte hintereinander deutlich verbalisiert, gefolgt von konsonant-vokalischen Mischformen („B[r]uder Jako[b], B[r]uder Jako[b], da, da, da ...“; „[V]ögelein, [V]ögelein, tan[z] ga, ga ...“). Zudem singt das Beobachtungskind beispielsweise „Eine kleine Spinne“ (D-Durtonleiter) bereits nach dreifachem Hören tonhöhengenau und rhythmisch korrekt unter Verwendung von konsont-vokalischen Kombinationen nach.

Abbildung 3
Textversion „Eine kleine Spinne“ (Gemeingut; Jackel 2008, 35)

Abbildung 4
Silbenketten-Version „Eine kleine Spinne“

6 Relevanz der Fallbeobachtungen für einzelne Arbeitsbereiche

Die sprechwissenschaftliche Relevanz dieses hier vorgestellten Einzelfalles – zusammen mit weiteren Beobachtungsdatensätzen nicht normkonformer/ untypischer, aber dennoch nicht pathologischer Spracherwerbsverläufe – kann als Ausgangshilfe für weiteren Forschungsbedarf betrachtet werden. Zudem hilft es, Studierenden der Sprechwissenschaften und der Logopädie den Blick zu öffnen für nicht-universale Theorien. Denn die vorhandenen Lehrbücher der Entwicklungspsychologie sind ausschließlich auf die typische Sprachgenese ausgerichtet. Hier fehlen in der beschreibenden Systematisierung der Kindersprache auf phonologischer Ebene Theorien, die auf die Einzigartigkeit des Individuums und auf spezielle Spracherwerbsverläufe fokussieren, die nicht unter Sprachentwicklungsverzögerungen oder Spracherwerbsstörungen zu subsumieren sind. Verallgemeinernde Aussagen reichen als Resümee aus sprachwissenschaftlicher Datenforschung nicht aus wie beispielsweise:

  • Beginnt der aktive Gebrauch der Sprache spät, dann mit vollständigen und richtigen Sätzen (Mönks 2000, 36).
  • Wer zuerst einzelne Wörter spricht, beginnt auch in der Musik mit Einzeltönen [= analytisch]. Und wer mit der melodischen Kontur beginnt, der fängt auch mit ganzen Satzkonstrukten an [=ganzheitlich] (Vorstellung ganzheitlicher Abhängigkeit nach Beyer 1994).

In der Sprachförderung (von pädagogischen Fachkräften zur Unterstützung der Sprachentwicklung durchgeführt) wie Sprachtherapie (von therapeutischen Fachkräften zur Behandlung von Sprachbehinderungen und -erwerbsstörungen durchgeführt) müssen sich die Fachkräfte nach erfolgter Anamnese des Einzelfalls – auf der Grundlage von diagnostischen Instrumenten wie informellen oder normierten Testverfahren, Screenings und/ oder nicht-standardisierten Beobachtungsverfahren (vgl. Wahn 2015, 5) – und immer unter Einbezug der individuell abgelaufenen frühkindlichen Entwicklungszeit dann an den speziellen Dispositionen dieses Kindes, dessen Interessen und Bedürfnissen ausrichten.

7 Abschlussgedanken

Herzka gibt an, dass zwischen dem 16. und 18. Monat ein Kind durchschnittlich „über einen Wortschatz von mehr als 3, aber weniger als 50 Wörtern“ verfügt (Herzka 1984, 57) – eine große Bandbreite bezüglich der Wörteranzahl, die vor mehr als dreißig Jahren als normal entwickelt angesehen wurde. Heute werden zahlreiche Eltern bereits nervös, wenn der Vokabelspurt nicht zeitgleich mit dem Laufenlernen zum Ende des ersten Lebensjahres bei ihrem Nachwuchs einsetzt. Denn sie sind zunehmend stärker sensibilisiert für Sprachentwicklungsverzögerungen und Spracherwerbsstörungen.

„Normale oder typische Sprachgenese“ (vgl. Wahn 2016, 5-19) bedeutet nicht, dass alle Kinder in einem bestimmten Alter die gleichen lexikalischen, grammatischen und syntaktischen Fähigkeiten vorweisen sollten. „Individuelle Kinder“ streuen um den statistisch ermittelten Mittelwert. Das Normkind ist eine Fiktion; eine „Idealisierung“ und „im schlimmsten Fall eine Irreführung“ (Szagun 2007, 149). Szagun zufolge hat man nur mit größeren Stichproben die Chance, alle Unterschiede zu erfassen und allgemein Gültiges über den Verlauf des Spracherwerbs sagen zu können (ebd. S. 125, 126). Sie geht davon aus, dass sie im Institut für Psychologie der Universität Oldenburg dazu statistisch aussagekräftige Aussagen machen kann. Hier sind Elternfragebögen entwickelt worden, die den Spracherwerb abfragten und zu Wortschatzlisten für Kinder in verschiedenem Alter führten. Aber: Bezüglich unseres Beobachtungsfalls kann eine solche Vorgehensweise nicht zielführend sein, denn sie stellt für das Singen vor dem Sprechen die falschen Fragen. Was man vorab nicht in Betracht zieht, nicht abfragt oder aus dem Datensatz herausrechnet, das kann auch nicht anzahlmäßig zu Buche schlagen. Szagun erwähnt an keiner Stelle einen Verlauf mit frühem Singen und spätem Vokabelspurt zu den als unterschiedlich vorkommenden Sprachentwicklungsstilen gehörig. Um so wertvoller erscheint der Hinweis auf die Erwerbsvariante des hier beschriebenen Fallbeispiels. Für die Ausprägungen des frühen Singens sind jedoch akustische Analysen nötig, um zu statistisch aussagekräftigen Aussagen zu kommen – akustische Analysen wie sie von Stadler Elmer und Elmer aufgestellt wurden (vgl. Stadler Elmer & Elmer 2000). Obgleich derartige Analysen im Beobachtungsfall ausstehen und somit seine Aussagekraft einschränkt ist, rückt er immerhin eine sehr wichtige Erkenntnis in den Fokus der Aufmerksamkeit:

Nach gut entwickelter Oralmotorik im ersten Lebensjahr ist es das Kind selbst, das sich entscheidet, wofür es diese einsetzen will: sprechend oder singend (vgl. Elmer Stadler 2008, 154). Und es sind wohl die Personen des Umfeldes, die in dieser Entwicklungsphase sehnlich auf entstehende Sprechmuster warten und die Singentwicklung als nachrangig erachten und ihren Fortgang somit kaum registrieren. Vielleicht kann unser Beobachtungsfall dazu beitragen, dass dem Singen – das doch sprachliche und musikalische Elemente so vortrefflich vereint – mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird.

8 Literatur:

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