Sprechen – Bewegen – Musizieren: ein neurophysiologischer Mainstream

"Vom Flüstern einer Silbe bis zum Fällen eines Baumes, alles ist Bewegung."

(Charles Sherrington; Neurobiologe 1859 - 1952)

1. Hirnforschung: eine etwas andere Sichtweise dieser faszinierenden Disziplin

Neben namenlosen Versuchspersonen gab und gibt es namentlich bekannte Individuen, die zu bestimmten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen verhelfen; auch ohne spezielles Untersuchungsarrangement, weil ihr Leben selbst sie zu Erkenntnisobjekten macht; zu "very important persons" durch ihre besonderen Lebenskrisen oder Begabungen: sogenannte "Zufalls-V.I.Ps". So wird beispielsweise Phineas Gage durch die Fachliteratur gezerrt. Derzeit tourt Kim Peek durch die USA als Gedächtnis-Gigant; ein Savant mit herausragender Einzelbegabung bei gleichzeitig mehr oder weniger starken geistigen und feinmotorischen Defiziten (Treffert & Christensen, 2006). Solange man solche Savant-Gehirne (französisch: Gelehrter) mit Inselbegabung nicht begreift, wird man sich nicht anmaßen dürfen zu meinen, man hätte die Funktionsweise des menschlichen Gehirns verstanden. Jedoch: Ein wenig mehr an Struktur- und Funktionswissen, besonders auf biochemischer Ebene, ist es in den letzten 100 Jahren geworden.

In neuester Zeit werden in Fachjournalen "very-important"-Laboruntersuchungen mit zuweilen erstaunlichen Untersuchungsitems präsentiert: "V.I.P.-Items und -Designs". Die verblüffende Bandbreite reicht von Eric Kandels "Gedächtnisschnecke" (2000, 2006) über Gisa Ascherslebens und Sabina Pauens "Probanden in Windeln" (2005, 2005a) bis hin zu Richard Davidsons meditierenden buddhistischen Mönchen im fMRT (Kraft, 2005).

Ende der 1980er Jahre schließlich gelingt es Seiji Ogawa mit Hilfe der BOLD-Messung (Blood Oxygen Level Dependent) zu detektieren, wie sich im MRT Änderungen des Sauerstoffgehaltes im Blut nachweisen lassen (Könneker, 2006). Der Anfang funktioneller Gehirn-Messverfahren ist gelegt. Und im Jahr 1990 ruft George Bush sen. die "Dekade des Gehirns" aus. Denn jetzt kann die neue Disziplin der empirischen Neurowissenschaften mit ihren funktionellen bildgebenden Messmethoden zuvor nicht zugängliches Wissen über Funktionszusammenhänge im Gehirn visualisieren: Funktionelles Neuroimaging als "V.I.- Messmethoden". Damit wird dem Gehirn bei seiner Arbeit zugeschaut, so Ogawa.

2. Neuroimaging mit Möglichkeiten und Grenzen bei Kindern

Bildgebende Verfahren wie PET und fMRT messen indirekt die Aktivität der Neuronen über den Sauerstoffverbrauch im Blutstrom, der mit der Aktivität der Hirnnervenzellen ansteigt. Die Scans beider Verfahren gleichen einander; doch PET und fMRT arbeiten auf verschiedene Weise, was für den Einsatz bei Kindern nicht unerheblich ist. Beim PET muss vorab eine schwach radioaktive Substanz ins Blut injiziert werden. Folglich stammen PET-Daten vornehmlich von Kindergehirnen, die aus diagnostischen Gründen ohnehin gescannt werden mussten. Bei der fMRT kann nur alle 2 bis 3 Sekunden ein Scan erfolgen, was für das Erfassen neuronaler Prozesse (Millisekundenbereich) zu langsam ist. Zudem erlauben Lautstärke des Gerätes und absolutes Stillhalten in der Enge der Röhre einen Einsatz erst ab dem 6. Lebensjahr.

Elektrophysiologische Techniken messen nicht am Gehirn, sondern am Effektorgan. So zeichnet das EEG an der Peripherie des Gehirns, der Kopfhaut, die elektrischen Potentiale im Gehirn auf und erstellt ein Diagramm. Das geschieht durch problemloses Auflegen von Elektroden, was selbst Säuglingen nicht unangenehm ist. Bei diesem peripheren Verfahren zur Aufzeichnung der Aktionsströme des Gehirns erweist sich besonders die Zeitnähe der Aufzeichnung zum neuronalen Geschehen als vorteilhaft (ereigniskorreliert). Jedoch führt nur die Aktivität großer Neuronenverbände zu einem Messergebnis; und durch die individuell verschiedene Strukturierung und Furchung des Cortex erscheinen die Diagramme räumlich verzerrt. Beides kann Interpretationsschwierigkeiten mit sich bringen.

Invasive Verfahren mit im Gehirn eingebrachten Elektroden sind ohnehin inakzeptabel. Als probates Messarrangement für Säuglinge und Kinder wird derzeit häufig eine Kombination aus EEG und fMRT gewählt. Ein neues Verfahren stellt die NIRS (Transcraniale Nahe Infrarot-Spektronskopie) dar mit Infrarotlicht. Muskelbewegungen wirken nicht störend; selbst Messungen im Laufen sind möglich. Damit könnte die Infrarotaufnahme eine probate Messmethode für neurophysiologische Diagnistik bei Kindern werden – besonders für den wissenschaftlichen Abgleich kindlicher Bewegungsabläufe.

3. Hirngerechtes (Be)Handeln als "neurobiologisches Rezept"; basierend auf der Erkenntnis von Neuroplastizität und Spiegelungsphänomenen?

Es lässt sich kein Behandlungskonzept direkt aus den Ergebnissen der Hirnforschung ableiten. Und kein Präventions- oder Therapiebereich läuft den Neurowissenschaften hinterher. Beachtet werden muss vielmehr in Prävention wie Rehabilitation vorrangig die ganzheitliche Kinderpersönlichkeit, bei der die Arbeitsweise des Gehirns zu berücksichtigen ist. Wir müssen erkennen (1.) WIE das kindliche Gehirn normalhin arbeitet; (2.) WO die pathologischen Verläufe beim jeweiligen kleinen Patienten liegen und (3.) WIE wir die Arbeitsweise seines Gehirns unterstützen können, so dass aus den Stärken des Einzelnen seine Fehlentwicklungen korrigiert respektive gemindert werden können.

Lernen und Um-Lernen fußen auf dem Wissen um die enorme Neuroplastizität (Charlton et al., 2003; Pauen, 2005b; Ratey, 2003). Diese Formbarkeit betrifft die neuronalen Verknüpfungswege und die Art und Anzahl mentaler Repräsentationen im Neocortex. Die Neuroplastizität wird damit zur Chance im Bereich der Entwicklungsförderung; denn die Neuronen haben umformende Fähigkeiten, können sich den jeweiligen Erfordernissen anpassen, bauen lebenslang neue Verbindungen auf, aktivieren vergessene Verbindungen neu und verfügen im erwachsenen Gehirn über adulte Neurogenese. Je jünger das menschliche Gehirn, desto flexibler können Hirnregionen verändert werden. In späteren Jahren lässt die Fähigkeit des Gehirns nach, sich auf mehreren Ebenen neu auszuprägen. Man postuliert dies mit der Begründung, dass dann die Myelinisierung weitgehend vorangeschritten sei. Viel betont sind in der Fachliteratur die sensiblen Phasen für bestimmte Fähigkeiten, auch für Verknüpfungen im Hinblick auf Basisvokabular und sich festigende Verschaltungen bei großmotorischen Bewegungen im zweiten Lebensjahr, die (nur) in diesem frühen Elementaralter in ganz besonderer Weise für Inputs aufgeschlossen seien. Wer die These von den "offenen Fenstern" und dem unwiderbringlichen frühen Sich-Schließen bezüglich Sprach- und Bewegungsfunktionen (bis 6. Lj.) überbetont, nimmt pädagogischer Intervention jegliche Chance. Nach Sarah-Jayne Blakemore & Uta Frith (2006) und Aljoscha Neubauer & Elsbeth Stern (2007) wurde die Bedeutung sensibler Phasen für den Fähigkeitserwerb bislang eher überschätzt.

Außerdem gilt es Spiegelneuronen zu nutzen, die in zahlreichen Hirnarealen vorkommen (Bauer, 2006; Rizzolatti et al., 2007). Äußerlich unterscheiden sie sich nicht von anderen Hirnnervenzellen. Als Multifunktionstalente sind sie beteiligt am Bewegen, Vorstellen und Beobachten von Bewegungen anderer samt emotionaler Bewertung des Ganzen. Demnach sind beim Spiegelungsphänomen Areale aktiv, die Bewegung und Sprache initiieren und imitieren, sowie in den Emotionszentren gelegene und damit emotional-wahrnehmende Hirnbereiche. So stellen die Spiegelzellen Schlüsselneuronen dar für Empathie und zwischenmenschliche Kommunikation. Übrigens: Bei Autisten funktioniert das Spiegelneuronensystem anders (Ramachandran & Oberman, 2007). Bildgebende Verfahren deuten auf ihre vielfältige Verortung hin; das heißt man vermutet ein umfangreiches Spiegelneuronensystem im unteren Teil des prämotorischen Cortex (Broca), motorischen Cortex (MI), unteren Scheitellappen (parietaler Assoziationscortex PASS, A7), oberen Schläfenlappen (auch Hippocampus), in vorderer Insula und vorderem cingulären Cortex (siehe Abbildung 2). Es hat den Anschein, als wirke die Euphorie des "V.I.P.-Hirnforschers" Vilayanur Ramachandran bezüglich der Spiegelneuronen wie eine Verifizierung, die aus streng wissenschaftlicher Sicht jedoch noch aussteht. Kinder lernen schnell über Imitation – sowohl bei motorischen als auch bei sprachlichen Prozessen. Auch bei der Triangulierung von Sich-Bewegen, Sprechen und Musizieren ist das Spiegelungsphänomen beteiligt.

4. Freudvolles Lernen und Overflow in der Dreierbeziehung von Sich-Bewegen, Sprechen und Musizieren

Bei freudvollem Agieren springt das körpereigene Belohnungssystem an und führt zu Lustgefühlen und Antriebskraft, gefolgt von Lernen als positive Vernetzung im Frontalhirn und cortikalen Repräsentationen in den Gedächtnisarealen, was für eine gesunde Entwicklung unabdingbar ist. Die Freude am eigenen Tun und der intrinsische Motivationschub gehen aus von der Dopaminschwemme im körpereigenen Belohnungssystem. Dopamin wird freigesetzt vom ventralen Nucleus tegmenti (A10) und der Substantia nigra im Mittelhirntegmentum. Von dort sind bei Belohnung zwei dopaminerge Bahnungen möglich. Die Meso-Dopaminschleife (1.) zieht ihre Zellbahnung hin zum Frontallappen; dort verortet im orbitofrontalen Cortex, wo Dopamin die Ausschüttung von endogenen Opioiden bewirkt, opiatähnlichen körpereigenen Stoffen. Sie vermitteln positive Gefühle, verleihen Tatkraft und fördern Neugierverhalten (Roth, 1999; Spitzer 2002). Die meso-limbische Dopaminschleife (2.) verläuft über die limbische Struktur des Nucleus accumbens (spricht an bei Lust aller Art) in Richtung Frontalhirn mit Dopaminflutung und Opioiden wie oben. PET-Messungen unter Verwendung von Tracern registrieren Dopaminkonzenrationen. Die Tracer doggen an dopaminerge Rezeptoren an und visualisieren die Areale mit Dopaminflutung. Auch die fMRT zeigt im Scan durch Rotfärbung der neuronal aktiven Areale, wie bei freundlichen Blicken, verbalen Aufmunterungen und Lob bei der Versuchsperson die Dopamin-Belohnungsschleife in Gang kommt. Derzeit bildet sich Konsens unter Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen darüber, dass Dopamin eine wichtige Rolle spielt bei Belohnung und Lernen. Als therapeutische Konsequenz ergibt sich: Lernen durch Selbermachen mit Erfolgserlebnissen und Lob. Und speziell für ganzheitlich förderndes Arbeiten in der Sprachheilpädagogik im Elementar- und Primarbereich gilt es, Begeisterungsfähigkeit, Bewegungsdrang und Freude als kindliche Ressourcen zu nutzen im täglichen pädagogischen Setting (siehe Workshop Jackel).

Overflow, neurophysiologisch einerseits betrachtet als das Mit-Lernen in angrenzenden Hirnregionen aufgrund der Nervenverknüpfungen benachbarter Areale untereinander (Singer, 2000) und andererseits als häufiger Gebrauch von Hirnbereichen mit Doppel- oder Vielfachfunktionen und gemeinsamen Hirnnervenbahnen, weil hier multifunktionell geübt werden kann – ist über die Triangulierung von Bewegen, Sprechen und Musizieren förderbar (Jackel, 2004, 2005). Dieses "Mit-Lernen" (in der Literatur synonym verwendete Begriffe: Transfereffekt, Cross-Training, kreuzmodaler Einfluss) ist besonders in frühen Kindesjahren in simultan ablaufenden Reifungsprozessen zu beobachten, zum Beispiel als Laufenlernen bei zeitgleichem Vokabelspurt Ende des ersten Lebensjahres; solches ist aber nicht zwingend. So kommt Apraxie mit und ohne sprachliche Retardierung als Komorbidität vor oder "late Talker" mit und ohne motorische Retardierung.

Overflow von Bewegungs- und Sprachentwicklung ergeben sich aus neurophysiologischer Sicht, weil Sprechen auch Bewegen bedeutet und der Sprechvorgang (Mundmuskeltätigkeit samt Mimik und Gestik) mit der übrigen Motorik neuronale Schnittareale hat. Bislang gab es zwar Autoren, die auf diese Overflows hinwiesen und deren Bedeutung für die sprachheilpädagogische Arbeit sahen und sehen (zum Beispiel Grohnfeldt, 2000; Njiokiktjien, 2003; Ratey, 2003), jedoch benannten sie kaum konkrete Schnittareale, die für Sprache beziehungsweise Sprechen und Bewegen zugleich zuständig sind. Solches können jetzt Neurobiologen dank Neuroimaging, weil die beim Sprechen und Bewegen aktiven Hirnareale in PET und fMRT visualisierbar sind (Jürgens, 2002; Neuweiler, 2005).

Dazu kommt die Musik. Mit ihren Rhythmikmitteln kanalisiert / strukturiert sie Sprache und Bewegung, bildet Raum- und Zeitgitter zur Orientierung und hilft so dem Kind beim Aufbau seines Wirklichkeitsverständnisses; im Elementar- und Primaralter besonders über die dopaminerge Motorikschleife bei Spielliedern mit dem Impulsgeber "Rhythmus" als Brückenglied.

5. Neuronale Korrelate für Sprache, Motorik und Musik; dargestellt in einem Mainstream

Der experimentelle neurowissenschaftliche Zugang zu neuronalen Korrelaten für Sprache mit seiner Möglichkeit direkter Introspektion in die Biochemie des Gehirns erlaubt vielfältigere und anders gewichtete Funktionszuweisungen bestimmter Sprachareale als bislang angenommen. So entdecken Neurobiologen bereits 1990 eine neuronale Verbindung zwischen Broca und Wernicke über den Nervenstrang Fasciculus arcuatus (Schmidt & Thews, 2005). Laut bildgebender Messmethoden sind in Broca nicht nur Bewegungsabfolgen von Gesicht und Zunge lokalisiert, die wir für das Erzeugen von Sprachlauten brauchen, sondern auch die Fähigkeit zum Entschlüsseln derselben Laute. Broca bewirkt, dass Wörter gleichzeitig artikuliert und verstanden werden können. Also arbeiten beide Regionen enger zusammen als bisher angenommen und können nicht länger als voneinander unabhängige Systeme betrachtet werden. Zudem ist Broca bei rascher Sinnentnahme gesprochener Sprache sogar aktiver als Wernicke – entgegen tradierten Vorstellungen (Ratey, 2003). Jedoch Vorsicht bei der experimentellen neurowissenschaftlichen Datenerhebung. Ihre Forschungsergebnisse sind nicht leicht und nicht immer eindeutig zu interpretieren. Neurowissenschaftler selbst sprechen zurückhaltend von Hinweisen, selten von eindeutigen Nachweisen. Und eruierte Korrelationen sind noch keine Kausalbeziehungen. Es ist nicht auszuschließen, dass die im Folgenden erläuterten neuronalen Korrelate für Sprache, Motorik und Musik mit dem technischen Fortschritt im Neuroimaging zu einem späteren Zeitpunkt teils wieder revidiert werden müssen.

Es gilt, einen Mainstream der neuronalen Verknüpfungen für Motorik, Sprache und Musik herauszuarbeiten. Dabei bleiben Areale bewusst außen vor, die nach neuesten Erkenntnissen einzelne Sprachfunktionen, ja spezielle Sprachaspekte wie beispielsweise das Benennen von Lebewesen und anderem, steuern. Denn man ist sich noch uneinig, wie diese Einzel-Zentren über das gesamte Gehirn verteilt sind. Die Gesamtheit aller Verknüpfungswege ist keineswegs erforscht. Auch zeigen neuere Studien generell bei der Organisation von Sprache hohe Variabilität zwischen Individuen (zum Beispiel Linkshändergehirne, Geschlechterunterschiede). Jedoch: Sprachfunktionen erfordern eine spezielle Art von Nervengewebe, weshalb Sprachareale nicht beliebig verschiebbar sind. Und Sprachproduktion wie auch komplexe motorische Fähigkeiten greifen auf gemeinsame neuronale Netzwerke zu (Jackel, 2006).

Dieser Beitrag beschränkt sich auf Schlüsselareale für Sprechen und Bewegen.

Abbildung 1
Motorische Strukturen im Neocortex

Für Sprache und Motorik geht der Impuls aus vom Frontalcortex, der generell die Bewegungsbefehle für absichtsvolle Tätigkeiten gibt. Im vorderen Gyrus cinguli wird entschieden, welche hereinströmenden Informationen an den präfrontalen Cortex durchgereicht werden zur Weiterplanung und Handlungsanweisung für den Output entlang des efferenten Funktionskreises. Das supplementär-motorische Cortexareal (SMA; Teil des prämotorischen Cortex PM) plant dann die Bewegungen. Der motorische Cortex (MI) löst die Bewegungen aus. Er generiert unter Rückgriff auf die ihm zuarbeitenden Basalganglien die passenden neuronalen Programme. Prämotorischer und motorischer Cortex initiieren gemeinsam die konkrete Muskelabsicht, auch für kontrollierte Gesichts- und Artikulationsmuskeln. Die Basalganglien (als Teile der motorischen Großhirnkerne im Großhirnmark gelegen) unterstützen den motorischen Cortex als dessen basales Muskel-Voreinstellungswerkzeug nur bei großmotorischer Bewegung. Fingerfertigkeit und neue motorische Prozesse bewerkstelligt der motorische Cortex zusammen mit den Spiegelneuronen in Broca.

Jetzt kommt der Scheitellappen hinzu (hauptsächlich der parietale Assoziationscortex PASS, unmittelbar posterior zu SI gelegen). Er stellt sich dar als Schnittareal von Sprechen und manuellen Bewegungen, ein Schlüsselareal. Er ist generell an der Programmierung von absichtsvollen Aktionsmustern beteiligt. Obgleich er auch für spontanes Sprechen bedeutsam zu sein scheint, indem er den Sprechimpetus gibt, ist er nicht der zentrale Sitz von Sprache. Erst seine Zusammenarbeit mit Broca generiert Wörter und Sätze. Bezüglich der Motorik ist generell erkannt, dass er erinnerte Hand- und Sprechbewegungen initiiert, indem er sie aus der Langzeitspeicherung abruft als Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses (Markowitsch & Welzer, 2005). Der Scheitellappen ist zudem maßgeblich beteiligt an der Entfaltung des Körperschemas und der Raumwahrnehmung, denn im oberen Bereich von PASS (A5) endet die Verarbeitung der Alphazellen für die Nah-Fern-Informationen, die sogenannte "Wo"-Bahn. Sie feuert beim räumlichen Agieren und konstruiert sich die dreidimensionale Welt mit Wissen über den eigenen Aufenthaltsort darin.

Abbildung 2
Die parietale Assoziationsrinde im Scheitellappen als Verrechnungsort für Informationen aus visueller und propriozeptiver Modalität zur Raumerkennung

Auch gehen die taktilen und propriozeptiven Analyseergebnisse aus dem eigenen Handeln (neuronal gespurt in SI) als Transfereffekte nahe beieinander gelegener Areale und zudem als sensorische Nervenendigungen aus den mittleren Bereichen innenliegender Muskelfasern direkt in PASS ein und liefern Informationen zur Stellung des eigenen Körpers im Raum. Nur wenn diese Konstruktion einer dreidimensionalen Welt im Scheitellappen zuvor gelungen ist, kann derjenige auch mit Raumlagebegriffen verbal korrekt agieren, das heißt mit einem abstrakten und in Sprache gefassten Raumlagekonzept umgehen.

Broca (B, A44) stellt ein weiteres, ganz wichtiges Schnittareal von Sprechen und manuellen Bewegungen dar. Schläfenwärts gelegen lässt es sich nicht wirklich scharf abgrenzen von anderen prämotorischen Gebieten, da es individuell unterschiedlich groß ausfällt. Für diesen Kontext ist wesentlich: Es enthält, wie andere prämotorische Areale auch, Spiegelneuronen. Sie bewirken bezüglich Sprechen, dass die einzelnen motorischen Anweisungen in variabler Reihenfolge zusammengeknüpft werden können – gelernte grammatikalische Regeln befolgend; als feste Algorithmen und sequentielle Reihenfolgebewegungen. Für den Neurobiologen Gerhard Neuweiler (2005) ist es gut vorstellbar, dass gerade die Handlungsneuronen in Broca – neben der Bewegungsbeteiligung des motorischen Cortex an der Fingerfertigkeit – das Fundament bilden, um über die Pyramidenbahn präzise abgestimmte und kleinste Bewegungen anzuweisen und so komplexe Bewegungsabläufe zu erlernen. Dass Broca bei Hand- und Fingeraktivitäten involviert ist, stellte sich erst in jüngster Zeit heraus und macht es so spannend für kreuzmodales Fördern von Sprechen und Bewegen.

Da wir Sprache und Musik vornehmlich über Hören und Nachahmen erwerben, dürften die Spiegelneuronen in Broca auch wesentlich daran beteiligt sein, dass dieses Gebiet als Schnittareal von Sprechen, Bewegen und Musikmachen anzusehen ist: Sprechzentrum und Rhythmikwahrnehmung. Damit erscheinen Klatsch- und Fingerspiele als vortreffliche Übungen, dieses Areal vielfältig zu stimulieren und hinsichtlich kreuzmodaler Förderung zu nutzen.

Zu erwähnen ist auch die "neuronale Schnellbahnung" zwischen Neocortex und Zielmuskel, die Pyramidenbahn und die Pyramiden-Seitenstrangbahn. Die Pyramidenfasern kommen vorwiegend aus dem prämotorischen, zudem auch aus motorischem Cortex und Scheitellappen und enden an den Motoneuronen des Zielmuskels. Sie leiten die willkürlichen Bewegungsimpulse für die Körpermuskulatur. Ihre oberen Motoneuronen verlaufen bis zu den Vorderhornzellen des Rückenmarks und schalten dort um auf die unteren Motoneuronen, deren extrem lange Axone in den motorischen Endplatten der angesteuerten Muskeln endigen (Colell, 2007; Pschyrembel, 1994). Über diese Pyramidenfasern werden Mund- und Rachenmuskulatur sowie die Muskeln in Fingern, Händen, Armen und Schultern innerviert. Unsere Beine sind über die Direktbefehle aus dem Neocortex wesentlich sparsamer versorgt. Das leuchtet ein, bedenkt man auch die räumliche Nähe und besondere Größe der neuronalen Repräsentationsfelder für Handsensorik und Myofunktion in der sensorischen wie motorischen Hirnrinde.

Für lange Zeit galt die Pyramidenbahn als oberste Stelle der Motorik. Heute weiß man, dass die Hirnrinde zwar das Exekutivorgan ist, jedoch die Handlungen bereits zuvor in den Motivationszentren gedacht, im limbischen System emotional eingeordnet und mittels Kleinhirn präzisiert sind. Denn bereits beim Denken von Bewegungen zeigt das EEG Erregungswellen.

Bei der Motorik geht der neuronale Verlauf außer über die Pyramidenbahn auch in Richtung Cerebellum mit einer regulierenden Rückkopplung zum prämotorischen und motorischen Cortex, besonders beim Erlernen neuer Aktivitäten. Das Kleinhirn sorgt bei motorischer Fehlhandlung für Bewegungspräzision; auch für Koordination der Kehlkopfmuskeln. An kognitiven Prozessen ist es ebenfalls beteiligt, wie am Lernen von Bewegungsabläufen und ihrer mentalen Vorstellung. Nur: Wir verstehen derzeit noch nicht wirklich, wie es das letztlich alles bewerkstelligt (Wicht, 2006).

Wenn wir Musik hören oder selbst musizieren, sind etliche weit verteilte Hirnareale aktiv, auch solche, die sich normalerweise mit anderen kognitiven Prozessen befassen. Ein spezielles Musikzentrum gibt es nicht (Schaller, 2006). Auch ändern sich die an Musik beteiligten Hirnareale in Abhängigkeit von Hörerfahrungen und musikalischer Betätigung, indem sich sensorische und motorische Repräsentationen für bestimmte Finger je nach Musikinstrument ausdifferenzieren (Weinberger, 2006). Musik stimmt unser Gehirn neu. Sprache und Musik sind die differenziertesten und komplexesten Reizsysteme im akustischen Bereich. Sie wollen beide etwas mitteilen, haben Syntax / Regeln für die passende Kombination ihrer Elemente, wofür in beiden Fällen anscheinend Broca und Wernicke zuständig sind. Für andere Schritte der Verarbeitung von Sprache und Musik gilt Ähnliches; auch hier gibt es Schnittareale und Mitfördereffekte. Letzteres gilt für Sprachförderung insofern, als beim Singen langsam und deutlich intoniert wird. Es liegt nahe, dass Musik und Sprache nicht unabhängig voneinander verarbeitet werden. So sind beim Musizieren außer der Hörrinde auch motorischer Cortex und Kleinhirn angeregt, grenzt doch die motorische Hirnrinde (MI) zusammen mit der sensorischen (SI) an die primäre Hörrinde (dorsal im oberen Bereich des Temporallappens).

Das musikalische Verständnis scheint erstaunlich kompliziert. Und an musikalischer Wahrnehmung sind beteiligt (Ratey, 2003): Gedächtnis und Erfahrung (Hippocampus, abspeichernde Großhirnrindenareale samt limbischer Strukturen), wiedererkennende Musik-Strukturen (Broca, Scheitellappen) und spezielle Hörregionen (primäre Hörrinde et al.).

Zudem assoziieren bei Musik aktive Gebiete mit dem dopaminergen Funktionssystem. Das Gefühlserleben von Musik funktioniert unabhängig vom aktiven Musikverstehen (Spitzer, 2006). Besonders bei Kindern ist Musik in der Regel nicht mit negativen Assoziationen belastet; denn schimpfende Eltern singen nicht.

Wird Musik mit Bewegung verbunden, zeichnet sie sich durch zwei wichtige Elemente aus: durch Zeit und Raum. In der Musik sind sie insofern bedeutsam, als Musik sich in Metren, Tempi, Rhythmen, Takten und Tonhöhen strukturiert. "Melodie/Klang" kann aber auch auf einen Sprechrhythmus mit Tondauer und -wechsel reduziert sein, zum Beispiel im Klatschspiel. In der Bewegung werden Raum und Zeit in Grundbewegungsarten, Raumebenen, Raumrichtungen, Raumformen und unterschiedliche Geschwindigkeiten übertragen. Raum-zeitliche Orientierungssysteme helfen den Kindern beim Aufbau ihres Wirklichkeitsverständnisses (Duesing & Ruckdeschel, 2006). Da Rhythmik die Mittel Melodie, Bewegung und Sprache benutzt, können über sie Erlebnissituationen, Gestaltungs- und Regenerierungsprozesse in Gang gesetzt werden. Mit Musik und Sprache ist Bewegung vielfältig beeinflussbar: Musizieren kann anregen und auffordern wie auch beruhigen, entspannen und ordnen. Im Elementar- und Primaralter bevorzugen die Kinder konsonante Klänge. Diese finden vornehmlich Durchlass bei der limbischen Filterstation des Thalamus.

Übrigens: Kinder in jungen Jahren mögen besonders gerne Marsch- und Volksmusik. Deren rhythmische Klarheit zusammen mit den harmonischen Klängen geben den Kleinen Sicherheit für ihre Bewegungen; sie dienen als akustische und motorische Strukturierungshilfen. Der Rhythmus ist das Verbindungsglied bei den Wechselwirkungen zwischen Musik, Bewegung und Sprache.

6. Fazit:

Ohne speziellen therapeutischen Settings im sprachheilpädagogischen Bereich in irgendeiner Form vorgreifen zu wollen (dafür bin ich nicht profressionalisiert), bieten sich m. E. spielerische Bewegungsformen mit Sprechanlässen an – gebunden in einen Rhythmus – als basale Orientierungshilfen, besonders im Elementar- und Primaralter, da ontogenetisch betrachtet die senso-motorische Entwicklung in diesem Lebensabschnitt ohnehin im Vordergrund steht.

Sich-Bewegen und Musizieren werden im gleichen cerebralen Netzwerk verarbeitet mit neuronalen Schnittarealen, die es vielseitig zu beüben gilt. Im Zusammenspiel dieser Tätigkeiten bekommt das Kind auditive, visuelle, taktil-propriozeptive und vestibuläre Anregungen und Rückkopplungen, die für seine ganzheitliche Entwicklung notwendig sind.

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Veröffentlicht unter: Jackel, B. (2008). Sprechen - Bewegen - Musizieren: ein neurophysiologischer Mainstream. In: Chr. Riehmann & M. Dallmaier (Hrsg.) Sprache als Brücke von Mensch zu Mensch, Kongressband zum 28. dgs-Kongress Cottbus, S. 153 - 166, Cottbus: Verlag Reinhard Semmler.

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